Das toxische Erbe des eurozentrischen Universalismus
Martin Hähnel • 1. Oktober, 2025
Europa zerfällt zusehends – politisch, sozial und moralisch. Der heute nur in bestimmten Fachkreisen geschätzte Ideenhistoriker Panajotis Kondylis (1943-1998) schreibt in seinem Werk Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg folgendes: „Gegenüber der klassischen ethischen Tradition – von den Vorsokratikern bis zur Aufklärung über Platon, Aristoteles und das Christentum – ist ein Verlust an Wirklichkeitsgehalt und Realitätssinn insofern zu verzeichnen, als jene Tradition vom Faktum und von der Notwendigkeit des unablässigen Kampfes der Vernunft gegen den ausufernden Drang unausrottbarer Triebe und Leidenschaften ausging und diesen Kampf direkt oder indirekt in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellte. Hingegen scheint sich heutige universalistische Ethik keine ernsthaften, auch theoretisch artikulierten Sorgen über die Fähigkeit des Menschen zu machen, der dunkleren Schichten seiner Existenz dauerhaft Herr zu werden. Ihre Mühen gelten vielmehr epistemologisch tragfähigen Definitionen der Vernunft, der Obligation etc., aus denen dann – ziemlich tautologisch allerdings – die ethischen Desiderata und die wohltuenden sozialen Folgen ihrer Verwirklichung deduziert werden. Mit der programmatischen oder faktischen Ausräumung der anthropologischen und geschichtlichen Faktoren muß auch jede verbindliche Tugend- und Pflichtlehre entfallen, und die Konstruktionen türmen sich im luftleeren Raum logischer Geschlossenheit.“ (Kondylis, 113)
Was Kondylis hier aus der eigentümlichen und der inneren Komplexität mancher Sachverhalte nicht immer gerecht werdenden Metaperspektive eines Ideenhistorikers beschreibt, erinnert gewissermaßen an jene Überlegungen Ludwig Wittgensteins, für den Ethik niemals als eine Wissenschaft von etwas, schon gar nicht der Moral, elaboriert werden könne. Anders als Wittgenstein kritisiert Kondylis hier allerdings nicht das generelle Vorhaben das Ethische in moralphilosophische Konstruktionen einfangen zu können (für Wittgenstein war das Ethische etwas Übernatürliches bzw. Mystisches), sondern die Tatsache, dass „die“ Ethik, welche sich in der Neuzeit insbesondere als Programm eines ethischen Universalismus, der sich prinzipiell in den Menschenrechten und institutionell in den Vereinten Nationen kristallisieren konnte, vor allem blind für seine historische Funktion ist und ohne Rückbindung an eine elaborierte politische Anthropologie zum „Schlachtfeld [wird], auf dem jede der konkurrierenden Seiten um die Durchsetzung der eigenen Interpretation der genannten Grundsätze und gegen alle anderen Interpretationen kämpfen wird.“ (Ebenda, 113)
Kondylis betont hier als Theoretiker der Macht und Entscheidung an mehreren Stellen dieses Buches, welches mit Unterstützung des Karlsbader Institutes 2026 in einer deutschen Neuauflage erscheinen wird, immer wieder die Unfähigkeit moralphilosophischer Theoriekonstruktionen, die politische und soziale Funktion ihrer eigenen Prämissen und Schlussfolgerungen mit zu bedenken; ein Habitus, der sich im Westen, vor allem seit der Aufklärung, fest etabliert hat und heute den globalen Mainstream der akademischen Diskussionen ausmacht: Kantianer, Utilitaristen, Anhänger der kritischen Theorie, sie alle frönen heute einer bestimmten Form des ethischen Universalismus, weil sie dessen Grundsätze der Gleichheit, Kulturinvarianz, Unparteilichkeit und logischen Widerspruchsfreiheit als unhintergehbare Axiome gesellschaftspolitischer und damit auch ethischer Diskurse begreifen. Vorwürfen einer generellen, durch die Geschehnisse außerhalb des universitären Kontextes immer wieder bestätigten Dysfunktionalität dieser Axiomatik begegnen deren Verteidiger, insbesondere die Kantianer, zumeist mit dem Argument, dass es doch gar nicht mehr darum gehen kann, ob der ethische Universalismus als Verfahren noch funktioniert oder nicht (das war vor allem das Anliegen von Rawls und Habermas), sondern dass der Universalismus unbezwingbar ist, weil er doch die „Präsupposition jedes moralischen Standpunktes ist.“ (Mohr, 401-411)
Aber sind diese Axiome, auf die Mohr den ethischen Universalismus gründen will, wirklich unhintergehbar? Mindestens sind hier Zweifel angebracht. Für Kondylis sind die genannten Axiome des ethischen Universalismus durchaus voraussetzungsreich, da er sich gerade nicht die innere Mechanik des Verfahrens eines ethischen Universalismus anschaut, sondern uns auf dessen äußeren politischen und sozialen Bedingungen aufmerksam macht, welche sich vorzüglich mit wirtschaftlichen und religiösen Interessen verbinden lassen und damit letztlich auch jeden moralischen Standpunkt zu überformen vermag. Ihm geht es also nicht darum zu zeigen, wie sich die Idee, dass universell gültige moralische Prinzipien und Normen für alle Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort gelten, unabhängig von kulturellen oder individuellen Unterschieden, in der Ethik operationalisieren lässt. Vielmehr macht er deutlich, wie in der Neuzeit der ethische Universalismus geopolitisch und ökonomisch auf drastische Weise verwertet bzw. ausgebeutet wurde und damit ein Paradigma geschaffen habe, das sich gut auf Gesellschaften übertragen lässt, die sich die Regeln des ethischen Universalismus noch geben konnten oder wollten: „In den Erwartungen, die der Westen durch den Weltexport seines ethischen Universalismus geweckt hat, steckt ein explosives Potenzial. Der Sieg seiner Ideen hat den Westen nicht entlastet, sondern im Gegenteil mit Aufgaben und Hypotheken beladen, unter deren Druck er sich von Grund aus ändern könnte.“ (Kondylis, 116)
Die aktuellen Kriege, geopolitischen Verwerfungen und wirtschaftlichen Verteilungskämpfe zeigen aber gerade, dass die Hypothek des ethischen Universalismus inzwischen so groß geworden ist, dass die Zentrifugalbewegungen die Kohäsionskräfte an Stärke übertreffen. Diese Neugewichtung der Kräfteverhältnisse gab und gibt dazu Anlass, dass politische, soziale und auch ethische Partikularismen entstehen können, die uns verdeutlichen, dass nicht mehr das universelle Gesetz rationaler Übereinkunft gelten kann und soll, sondern ein anderes Gesetz in die politisch-soziale Wirklichkeit zurückkehrt, das an das alte Gesetz des Dschungels erinnert oder auch auf bestimmte Machtstrategien rekurriert, die wir mit Positionen eines Kallikles, Machiavelli oder Nietzsche verbinden.
Nun stellt sich natürlich die Frage, wie wir mit der Situation eines sich von den sozialen und politischen Gegebenheiten immer mehr entfremdenden ethischen Universalismus, welche nicht gänzlich neu, aber in seinem globalen Ausmaß sicherlich noch nie dagewesen ist, umgehen sollen. Hat der ethische Universalismus angesichts dieser Entwicklungen überhaupt noch eine Berechtigung? Wie kann der heutige ethische Universalismus weiterleben, wenn er unverbrüchlich mit dem Sieg westlicher, immer mehr infrage gestellter Ideen in Verbindung gebracht wird. Wie kann sich „der Westen“, so er sich in Folge seiner fortschreitenden Selbstauflösung überhaupt noch als dieser begreifen will und kann (Nachdem der Ausdruck des „[christlichen] Abendlandes“ erfolgreich dekonstruiert wurde, ist jetzt, Josephine Quinn zufolge, der Begriff des Westens dran.), weiter im Machtspiel der Durchsetzung bestimmter sozialer und politischer Ideen und Interessen behaupten?
Die Antwort ist alles andere als einfach. Sinnvoll erscheint es daher, zunächst auf die historischen Ursachen und philosophischen Gründe zu schauen, die dazu geführt haben könnten, dass der ethische Universalismus derart siegreich war, welche aber auch gleichzeitig den Keim des Verderbens in die Früchte seines Triumphes hineingelegt haben. In aktuellen Analysen über den Wert und Nachteil des ethischen Universalismus für die Menschheit gehen die Meinungen, wenn wundert es, oft diametral auseinander. Während die einen, z.B. Hans Joas, glauben, den ethischen Universalismus (bzw. dessen Früchte), welcher in der Idee der Menschenrechte verbrieft ist, irgendwie retten zu können, sehen andere – wie Panajotis Kondylis – im Momentum seines Verfalls den Ausgangspunkt für einen Machtkampf zwischen verschiedenen politisch-sozialen Ideensystemen. Wieder andere glauben, dass es möglich sei, dass sich der ethische Universalismus wieder auf seine ursprünglichen Quellen und Qualitäten, die erst einmal erkannt und verstanden werden müssen, zurückbesinnen könne.
Doch wenden wir uns aber zunächst der Position von Joas zu. Jedenfalls scheint der Religionssoziologe in seinem neuen Buch über den Universalismus. Weltherrschaft und Menschheitsethos nicht der Meinung zu sein, dass sich der Westen irgendwie ändern müsse, wenn er den ethischen Universalismus als kultur- und mentalitätsunabhängige Größe aufrechterhalten und plausibel machen will. Vielmehr geht er – nicht unähnlich zu Kondylis – davon aus, dass es beim ethischen Universalismus gar nicht um eine bestimmte theoretische Idee von Ethik bzw. Moral geht, sondern um ein Produkt der Auseinandersetzung mit dem sogenannten „politischen Universalismus“. (Joas, 26) Wir verstehen Joas zufolge den ethischen Universalismus demnach nur in Wechselwirkung mit der Geschichte von Imperien, d.h. aus den Reaktionen auf deren Weltherrschaftsansprüche heraus oder als Rechtfertigungsversuche ebendieser Imperien. Joas ist durch die Betonung der nicht weiter ausgeführten Idee eines alle miteinander verbindenden Menschheitsethos der Auffassung, dass der ethische Universalismus nicht im Westen seinen Ursprung hat, sondern sich in einem Zeitraum zwischen 800 und 200 v. Chr. in verschiedenen Kulturkreisen gleichermaßen herausgebildet habe. Zudem ist er der Auffassung, dass die Kernbotschaft des ethischen Universalismus gar nicht in den demokratischen Idealen des 18. und 19. Jahrhunderts liege, sondern in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts zu suchen sei. Für Joas sind die Grundlagen des ethischen Universalismus also nicht in Vernunftfortschritt und Selbstbestimmung zu verorten, sondern in Gewalterfahrungen und vielfältigen Verstößen gegen das elementare Recht auf Unversehrtheit. Richtigerweise unterscheidet Joas hier die Idee des ethischen Universalismus von seiner politischen, ökonomischen und sozialen Umsetzung, vergisst dabei allerdings, dass diese Erfahrungen gerade Folgen der Durchsetzung einer eher pervertierten Idee des ethischen Universalismus sind.
Im Gegensatz zu Kondylis entwickelt Joas eine „affirmative Genealogie“ des Menschheitsethos, die keiner Kultur, schon gar nicht der europäischen, einen normativen Vorrang einräumt. Ferner steht für Joas jene universelle Sakralität der Person, wodurch sich das Menschheitsethos entfalten kann, (Ebenda, 857) im Zentrum. Auf unsere oben gestellten Fragen weiß Joas keine zufriedenstellende Antwort zu geben, was auch daran liegt, dass er es generell vermeidet, normative Aussagen zu machen und auf den ethischen Universalismus als eine genuine westliche politische und soziale Idee einzugehen. Gleichwohl stellt er am Ende seines Buches eine wichtige Frage: Wie kann der ethische Universalismus davor bewahrt werden, als imperiale Ideologie zu dienen? (Ebenda, 898) Offenbar ist der Katholik Joas, welcher der Religion eine große Bedeutung in der Begründung eines ethischen Universalismus beimisst, jede Form der Hegemonialität suspekt. Folgerichtig müsste er ein missionarisches Christentum oder einen missionarischen Islam als imperiale Ideologie ablehnen. Ebenso wie Marxisten, Kantianer, Utilitaristen zieht sich Joas trotz anderer Prämissen auf einen moralischen Standpunkt zurück, den er unverbrüchlich mit der Idee eines Menschheitsethos verbindet. Dieser moralische Standpunkt, auf sich nur ethische Universalisten (die in Bezug auf den Geltungscharakter anti-universalistischer Ansätze plötzlich zu normativen Relativisten werden) berufen dürfen, ist aber überaus fragil und kann mit einem Federstrich aus den Angeln gehoben werden.
Robert Spaemann, einer der letzten großen konservativen Intellektuellen in Deutschland, scheut sich im Unterschied zu Joas und in teilweiser Übereinstimmung mit Kondylis nicht, den ethischen Universalismus eindeutig mit dem Westen bzw. mit Europa in Verbindung zu bringen. Für Spaemann ist es insbesondere der Ausbreitung der naturwissenschaftlichen Zivilisation im 19. Jahrhundert und dem Historismus (dem ja Joas als Troeltsch-Interpret notwendigerweise anhängt) zu verdanken, dass der ethische Universalismus, weil er sich seiner metaphysischen Voraussetzungen entledigt hat, in einen radikalen Kulturrelativismus umschlagen musste. Ähnlich argumentiert auch Kondylis, der wie Spaemann den ethischen Universalismus als Ausdruck eines generellen „Funktionalismus“ der Moderne betrachtet. Dieser durch „europäische Selbstrelativierung“ ermöglichte bzw. geschaffene Funktionalismus war, (Spaemann, 85) wie anfangs schon angedeutet, überaus erfolgreich insofern als er mit voller Überzeugung das Zeitalter der Tugend und traditionellen (christlichen) Werte für beendet erklärt habe, um ein neues Zeitalter der Kaufleute und Funktionäre auszurufen (in den genauen Worten Edmund Burkes: „The age of chivalry is gone. — That of sophisters, economists, and calculators, has succeeded; and the glory of Europe is extinguished for ever.“) Spaemann sieht in dieser vom „alten Europa“ ausgehenden Entartung des ethischen Universalismus ebenso wie Kondylis eine Hypothek, die die Weltgesellschaft bis heute belastet und Ursache für zahlreiche politische und soziale Spannungen geworden ist und noch immer ist: „Nachdem Europa das Gift exportiert hat, ist es verpflichtet, das Gegengift zu exportieren.“ (Ebenda, 89) Während Joas diese Diagnose offenbar nicht teilen würde, weil er den Westen hier gar nicht in der Verantwortung sieht, insofern er glaubt, dass Europa dieses Gift doch gar nicht verteilt habe und der ethische Universalismus sowieso eher als ein Herrschaftsinstrument der Mächtigen zu verstehen sei und nur im Rahmen der Anerkennung eines nebulösen Menschheitsethos domestiziert werden könne, sind Spaemann wie auch Kondylis der Auffassung, dass wir nicht umhin kommen mit diesem toxischen Erbe umzugehen. Während Kondylis, der „Aufklärer ohne Mission“, glaubt, dass der Westen gar nicht mehr in der Lage sei, das wichtige Gegengift zu exportieren, weil er sich damit in einen aussichtslosen Kampf zwischen divergierenden partikularen Auffassungen in Bezug auf die Art und Weise der politischen Umsetzung des ethischen Universalismus begeben hat, glaubt Spaemann, dass der ethische Universalismus noch zu retten sei, ohne ihn in seine alten Rechte zurückversetzen zu können und zu wollen. Für Spaemann ist dabei der antike Physis-Begriff ein wichtiger Maßstab, denn ohne ein Verständnis dessen, was von Natur aus gut und richtig ist (physei/physikon dikaion), können wir keine universellen ethischen Normen bilden und rechtfertigen: „Die griechische Lebensweise, die Polis, wurde nicht deshalb verteidigt, weil sie griechisch ist, sondern weil sie naturgemäßer ist als andere, z.B. despotische Verfassungen“. (Ebenda, 86) Damit die heutige Zivilisation also nicht einen Rückfall in pure Despotie erlebt, wo gemäß Joas einzelne Staaten ihren Bürgern vorgeben, an welchen universellen Normen und Werte sie sich auszurichten haben, ist es notwendig den Universalismus wieder an objektive, naturrechtliche Kriterien rückzubinden: „Wo sich der Universalismus als europäische Denkform nicht mehr wie bei Platon und in der christlichen Tradition auf das Unbedingte, sondern auf sich selbst und die eigene Tradition richtet, wird sie nihilistisch“. (Ebenda, 86f) Wir können also aus der ideengeschichtlichen Kritik des menschenrechtlichen Universalismus bei Kondylis und deren religionssoziologischen Depotenzierung bei Joas ableiten, dass sich der ethische Universalismus, so wie Spaemann ihn zeichnet, nicht als expansiver Inklusivismus, welcher starke politische Ressentiments provoziert, zu denken ist, sondern nur in Verbindung mit der Apologetik seines naturrechtlichen Kerns wiederbeleben lässt. Der Kampf um die erneute Freilegung dieses naturrechtlichen Kerns hat begonnen.
Dr. Martin Hähnel ist Direktor des Karlsbader Instituts und Privatdozent an der Universität Bremen.
Joas, Hans, Universalismus. Weltherrschaft und Menschheitsethos. Berlin: Suhrkamp, 2025.
Kondylis, Panajotis, Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg. Berlin: De Gruyter, 1992.
Mohr, G, “Hat Kants Universalismus ausgedient?” ZEMO 7, 401–411 (2024). https://doi.org/10.1007/s42048-024-00198-x (Kursiv Martin Hähnels, nicht des zitierten Autoren.)
Spaemann, Robert, „Universalismus und Eurozentrismus“. In: Universalismus, Nationalismus und die neue Einheit der Deutschen, hg. v. Petra Braitling und Walter Reese-Schäfer. Frankfurt: Fischer Taschenbuch, 1991.